Kartellrecht – Doppelt hält besser

Häufig berühren Kartellverfahren die Zuständigkeit der Europäischen Kommission und verschiedener Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten. Wer auf nationaler Ebene einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung stellt, muss dies aber auch auf europäischer Ebene tun. Denn beide Systeme laufen rechtlich unabhängig voneinander. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nun klargestellt (Az.: C-428/14). Die Entscheidung hat weitreichende Folgen für die Chancen auf Straffreiheit in grenzüberschreitenden Kartellverfahren, wie Sven Köhnen von Friedrich Graf von Westphalen & Partner im Folgenden näher erläutert.

Im streitigen Fall hatte das Unternehmen DHL Express (Italy), italienische Tochtergesellschaft von DHL, bei der Kommission einen umfassenden Kronzeugenantrag sowie einen Kurzantrag, der später konkretisiert wurde, bei der italienischen Wettbewerbsbehörde eingereicht. Sie zeigten damit Wettbewerbsverstöße auf dem Sektor der internationalen Frachtverkehrsdienste an. Neben DHL hatten auch andere Beteiligte des Kartells, darunter Agility Logistics und Schenker Italiana, Kronzeugenanträge gestellt. Deren Anträge führten vor der EU-Kommission nur zu einer Ermäßigung der Geldbuße. Anders ging die italienische Wettbewerbsbehörde AGCM vor, die allein den Antrag des Unternehmens Schenker in Rahmen eines vollständigen Erlasses der Geldbuße berücksichtigte. Der zeitlich vorher eingegangene Antrag von DHL führte hingegen nicht zu einem Bußgeld-erlass, da die Angaben für den kartellierten Sektor erst zeitlich nach der Antragsstellung von Schenker erfolgten.

Der von DHL bei der Kommission eingereichte Antrag wurde von der italienischen Wettbewerbsbehörde nicht berücksichtigt, so dass eine Geldbuße gegen DHL verhängt wurde. Hiergegen ging DHL rechtlich vor. Das Unternehmen war der Ansicht, dass die italienische Wettbewerbsbehörde seinem Antrag wegen der früher auf europäischer Ebene gestellten Anzeige der erste Rang hätte eingeräumt werden müssen. Darüber hinaus wurde gerügt, dass der Antrag von Schenker zu einem Erlass der Geldbuße geführt hat, obwohl die Kommission nur eine Ermäßigung vorgenommen hatte.

Europäisches Kronzeugenmodell für nationale Behörden nicht bindend

Für die Ermittlung von Kartellrechtsverstößen und die Verhängung von Geldbußen sind die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten neben der Kommission zuständig. Sie bilden ein Europäisches Wettbewerbsnetz (ECN) und haben sich zu einer engen Zusammenarbeit bei der Durchsetzung des europäischen Kartellrechts verpflichtet. Einzelheiten sind in der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit geregelt. Das ECN hat unter anderem ein Kronzeugenmodell entwickelt. Dieses Modell schafft einen Regelungsrahmen für die Behandlung von Kronzeugenanträgen zur Aufdeckung von Kartellrechtsverstößen. Der italienische Staatsrat (Consiglio di Stato) legte dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vor, welche Bindungswirkung dieses Modell für die nationalen Wettbewerbsbehörden entfaltet. Nach Auffassung des EuGH ist das Kronzeugenmodell des ECN für nationale Wettbewerbsbehörden nicht bindend. Der ECN ist nicht dazu berechtigt, für die Mitgliedstaaten rechtlich verbindliche Regelungen zu schaffen. Insbesondere ist die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich. Dies hat der EuGH auch in mehreren Entscheidungen bestätigt (Az.: C-360/09 und C-557/12). Daher existiert auf der europäischen Ebene kein einheitliches Kornzeugensystem. Nationale Behörden müssen bereits gestellte Kronzeugenanträge vor der Kommission nicht berücksichtigen oder sich über solche Anträge informieren. Die Anträge sind unabhängig voneinander zu beurteilen. Jede andere Bewertung führt nach Ansicht des EuGH dazu, dass Kronzeugenanträge, die vor der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden gestellt werden, in ein Rangverhältnis zueinander gesetzt werden. Ein solches Vorgehen widerspricht jedoch dem herrschenden dezentralisierten System. Es ist daher alleine die Aufgabe der Antragsteller, die europäische und nationale Ebene gleichermaßen zu berücksichtigen.

Auf dieser Grundlage durfte die italienische Wettbewerbsbehörde Schenker die Geldbuße vollständig erlassen, obwohl die Kommission nur eine Ermäßigung vorgenommen hatte. Die nationalen Wettbewerbsbehörden bewerten die bei ihnen eingereichten Kronzeugenanträge unabhängig von der Kommission. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten die effektive Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts sicherstellen müssen. Schließlich schaffen Kronzeugenregelungen einen Anreiz für Unternehmen Kartelle aufzudecken und erleichtern so die Arbeit der Wettbewerbsbehörden.

Die Entscheidung des EuGH ist nach geltender Rechtslage folgerichtig. Da das europäische Recht keine verbindlichen Regelungen für die Behandlung von Kronzeugenanträgen enthält, ist für die Prüfung der Anträge ausschließlich das nationale Recht maßgebend. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie neben dem Kronzeugenantrag bei der Kommission auch einen Antrag bei den nationalen Wettbewerbsbehörden einreichen müssen, die auf Grund der Auswirkung des Kartells neben der Kommission zuständig sind. Nur durch ein zweigleisiges Vorgehen auf nationaler und europäischer Ebene können sie die Chance auf Straffreiheit oder zumindest eine verminderte Strafzahlung bei der Anzeige eines Kartells wahren.

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