Von Innovationen zu staatlichen Interventionen
Noch vor wenigen Jahren standen offene Märkte und freier Wettbewerb im Vordergrund deutscher Wirtschaftspolitik. Die „Industriestrategie 2030“ des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) spricht nun eine andere Sprache. Auch in Antwort auf chinesische Initiativen wie „Made in China 2025“ und „Neue Seidenstraße“ sind die „Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik“ mit dem in diesem Kontext protektionistisch anklingenden „Made in Germany“-Gütesiegel versehen, erläutert Jan Bonhage, Partner bei Hengeler Mueller.
Mit seiner Initiative ist Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in Europa nicht allein. Besonders Frankreich hält sich bei industriepolitischen Interventionen traditionell nicht zurück. Auch die „Mission Letter“ der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sind von industriestrategischen Initiativen durchzogen. Eine „Industrial Strategy“ sowie ein „White Paper on an Instrument on Foreign Subsidies“ stehen für März 2020 auf der Agenda. Altmaier kündigte zudem an, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 die Industriepolitik zum Schwerpunkt zu machen. Parallel verschärfen die USA die Regeln für ausländische Investitionen (CFIUS). Zu Handelssanktionen und bilateralen Deal-Bestrebungen treten weitere protektionistische Instrumente.
Rechtsreformvorhaben für Deutschland
Die knapp 40 S. umfassende Industriestrategie kündigt konkrete Reformen an und unterscheidet sich darin von dem eher impulsiv-erratischen Entwurf vom Februar 2019. Besonders die industriepolitischen Leitlinien zur Wahrung der „technologischen Souveränität“ haben es in sich. Technologische Souveränität Deutschlands bzw. Europas tritt neben den in der Investitionsprüfung (bislang) maßgeblichen Begriff und Maßstab der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Neben neuen Regelungen für BAFA-Auflagen zu Technologietransfers in Drittstaaten bei der Übernahme von Unternehmen mit durch Bundesmittel geförderter Technologie kündigt das BMWi weitere Änderungen des Investitionsprüfungsrechts an. In Anpassung an die EU Screening-Verordnung (EU) 2019/452 sollen ein Kooperationsmechanismus zur Einbindung anderer Mitgliedstaaten und der EU-Kommission in das Prüfverfahren eingeführt sowie – Achtung! – das Prüfkriterium öffentliche Ordnung oder Sicherheit konkretisiert werden. Dadurch werde der Handlungsspielraum des Staates „moderat erweitert“. Zudem möchte das BMWi eine „Nationale Rückgriffsoption“ inkl. eines Ständigen Ausschusses der Bundesregierung auf Staatssekretärsebene verankern, mit der sich der Staat bei sensiblen, sicherheitsrelevanten Technologien als letzte Option über die KfW an dem Unternehmen zeitlich befristet beteiligt. Im Wettbewerbsrecht kündigt das BMWi die Anhebung der Aufgreifschwelle der Fusionskontrolle und eine Schärfung der Missbrauchsaufsicht im Rahmen des – aktuell in der Ressortabstimmung befindlichen – GWB-Digitalisierungsgesetzes an.
EU-Reformvorhaben
Auch für die EU- und globale Ebene strebt das BMWi rechtliche Fortentwicklungen an, u. a. eine Modernisierung der WTO und neue EU-Handels- und Investi-tionsabkommen. Zudem gibt das BMWi den Widerstand gegen das Internationale Beschaffungsinstrument (IPI), das der Bund 2012 und 2016 verhindert hatte, auf und erachtet es nun als „praktikables vergaberechtliches Sanktionsinstrument“. Damit könnten z. B. staatlich subventionierte Drittstaatsunternehmen bei Vergaben innerhalb der EU mit einem Aufschlag belegt werden.
Für das EU-Wettbewerbsrecht fordert das BMWi Leitlinien für europäische Unternehmenskooperationen sowie Regeln für marktmächtige Unternehmen zu Datenzugang und -portabilität. EU-Fusionskontrollverfahren sollen stärker als bislang den globalen Wettbewerb berücksichtigen und dem „Wettbewerb durch staatlich kontrollierte oder subventionierte Unternehmen aus Drittstaaten“ Rechnung tragen. Auch für das EU-Beihilfenrecht fordert das BMWi ein Instrument gegen den (ungleichen) Wettbewerb mit subventionierten Produkten aus Drittstaaten. Daneben hofft das BMWi, das Beihilfeinstrument „Wichtige Projekte von Gemeinsamem Europäischen Interesse“ (IPCEI), das auch in Deutschland hochvolumige Vorhaben z. B. in der Mikroelektronik fördern wird, zu optimieren.
Die Zauberformel auf deutscher und EU-Ebene ist aktuell, ein Level Playing Field zu schaffen. Das BMWi bekräftigt zwar, im globalen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme eine Industriepolitik mittels staatlicher Subventionen, Marktabschottung und Interventionen abzulehnen. Diese Elemente klingen jedoch auch in der Industriestrategie 2030 an.
Ausblick
Anders als im Februar-Entwurf angekündigt, wird die Strategie nicht weiter innerhalb der Bundesregierung abgestimmt und beschlossen. Insofern benennt die Industriestrategie 2030 nur Vorhaben eines Ministeriums, die noch einen langen politisch-parlamentarischen Weg vor sich haben. Insbesondere für Vorhaben mit Nicht-EU-Bezug, die schon jetzt (Rechts-)Unsicherheiten und Verzögerungen im veränderten Investitionsprüfungsumfeld ausgesetzt sind, zeichnen sich aber weitere Herausforderungen ab. Die Instrumente – vom Außenwirtschaftsrecht über Wettbewerbs- und Beihilfenrecht hin zum Vergaberecht – sind ausgebreitet und werden nachgeschärft. Dem angeschlagenen Patienten des offenen freien Handels verhilft es hoffentlich zur Genesung.
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