Börsen im Bann der KI-Revolution
Dieser Erfolg kam auch an der Börse an. Da OpenAI dort aber nicht notiert ist, konzentrierte sich das Anlegerinteresse zunächst auf den Software-Riesen Microsoft, dem mit über 13 Mrd. US-Dollar größten Investor des ChatGPT-Erfinders. Dank dieser Verbindung avancierte die in die Jahre gekommene Software-Schmiede plötzlich zum Vorreiter des KI-Hypes, der dem im Zuge der Zinswende ziemlich unter die Räder gekommenen Technologiesektor um die US-Schwergewichte Amazon, Alphabet (Google) und Apple zu neuen Höhenflügen auf dem Kurszettel verholfen hat. Zu den illustren Gründern von OpenAI zählte neben CEO Sam Altman auch Elon Musk, der sich jedoch bereits 2018 aus der Führung des Unternehmens verabschiedete, um bei Tesla seinen eigenen KI-Ambitionen nachzugehen.
KI kann in hoher Geschwindigkeit riesige Mengen an Kundendaten durchforsten und auf verborgene Muster abklopfen und damit Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Manche Vorstandschefs erhoffen sich von KI sogar die Lösung ihrer Personalprobleme, wenn die Boomer-Generation alsbald in Rente geht. Die Verarbeitung von derart immensen Datenmengen erfordert indes auch enorm viel Rechenleistung. So verwundert es nicht, dass ausgerechnet der Chip-Konzern Nvidia, den außerhalb der eingefleischten Gamer-Szene zuvor kaum jemand kannte, zum neuen Bannerträger der KI-Euphorie an der Börse avanciert ist.
Der KI-Rummel weckt denn auch Erinnerungen an die Anfänge des Internet-Zeitalters Mitte der 1990er-Jahre. Ausgehend von den USA, schossen auch in Deutschland und Europa Internet-Start-ups aus dem Boden, die mit neuen Geschäftsmodellen die industriell geprägte Old Economy herausforderten. Die Deutsche Börse etablierte mit dem „Neuen Markt“ ein Segment als Sammelbecken für wachstumsstarke Internet-Unternehmen. Doch viele der neuen Geschäftsmodelle gingen nicht auf und die einseitige Fixierung auf Wachstum sorgte für eine gigantische Verbrennung von Investorengeld. Hinzu kamen handfeste Skandale, die zur Jahrtausendwende schließlich zum Platzen der Dot.com-Blase führten. Den Siegeszug des Internets konnte das aber nicht aufhalten. Das reinigende Gewitter trennte vielmehr die Spreu vom Weizen. Dieser, für viele Internet-Unternehmen und ihre Aktionäre schmerzhafte Häutungsprozess, der die heute dominierenden Tech-Giganten wie Amazon, Google, Apple und Netflix hervorbrachte, dauerte fast 20 Jahre. Die KI-Revolution, die gerade erst begonnen hat, wird deutlich schneller voranschreiten. Die mit gewaltigen Datenmengen trainierte KI lernt mit jeder Nutzeranfrage eigenständig dazu und macht sich damit von der Kreativität ihrer Programmierer zunehmend unabhängiger. Das beschleunigt Innovationen und die Entwicklung neuer KI-Anwendungen.
Konjunkturelle Flautebeeindruckt Börse kaum
Der KI-Boom ist indes nicht die einzige Ursache für den im Herbst 2023 gestarteten Börsenaufschwung, der im laufenden Jahr bereits mehrfach in neuen Allzeithochs gipfelte. Das ist umso erstaunlicher, da das konjunkturelle Umfeld nicht gerade als Startrampe für Kursraketen taugt. Die deutsche Wirtschaft schrammt am Rande einer Rezession. Führende Ökonomen haben ihre ohnehin schmalen Wachstumsprognosen noch weiter nach unten geschraubt. Die Unternehmen ersticken an der staatlichen Bürokratie und elend langen Genehmigungsverfahren. Der Standort Deutschland mit seinen vergleichsweise hohen Steuersätzen hat an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verloren. Die Inflation hat die Kosten nach oben getrieben und die um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten kämpfenden Gewerkschaften legen mit immer neuen Streiks weite Teile des Landes lahm.
Doch die Börse scheint das kaum zu stören. Die Hoffnung auf baldige Zinssenkungen der Notenbanken überstrahlt seit dem Herbst die konjunkturelle Tristesse. Ursprünglich hatten die Kapitalmarktakteure den ersten Zinsschritt nach unten bereits in diesem Frühjahr erwartet. Doch mittlerweile zeichnet sich ab, dass die EZB wohl erst im Juni mit dem Absenken der Leitzinsen beginnen wird. Zudem dürfte der Abstieg vom Zinsgipfel in Trippelschritten erfolgen. Die amerikanische Notenbank Fed dürfte sogar noch etwas länger warten. Dass die EZB der Fed zuvorkommt, passiert nicht so häufig. Selbst diese Verzögerungen konnten die Vorfreude an der Börse aber nicht trüben. Daran änderten auch die durchwachsenen Unternehmensbilanzen für 2023 nur wenig. Die Analysten hatten bereits vergangenes Jahr ihre Gewinnschätzungen nach unten korrigiert und damit die Latte für Enttäuschungen deutlich niedriger gehängt. Außerdem versuchen die Unternehmen, ihre Investoren mit Aktienrückkäufen und üppigen Dividenden, die notfalls auch aus der Substanz bezahlt werden, bei Laune zu halten.
Im Superwahljahr 2024 blickt die Börse besonders gebannt auf die Präsidentschaftswahl in den USA, wo im November eine Neuauflage des Duells zwischen Amtsinhaber Joe Biden und seinem Vorgänger Donald Trump ansteht. Präsidentschaftswahljahre gelten traditionell als gute Börsenjahre. Um seine Chancen auf eine Wiederwahl zu verbessern, versucht der Amtsinhaber oft schon frühzeitig, durch Steuersenkungen oder Konjunkturprogramme die Wirtschaft anzukurbeln. In diese Trickkiste hat auch Biden mit seinem „Inflation Reduction Act“ gegriffen. In der jüngeren Vergangenheit hat der vermeintliche Zusammenhang von Präsidentenwahl und steigenden Aktienkursen allerdings nicht immer funktioniert. 2000 crashte das Platzen der Dot.com-Blase die Börsen-Party, 2008 sorgte die Finanzkrise für lange Gesichter und 2020 ließ Corona die Kurse abstürzen, auch wenn zum Jahresschluss wieder ein beachtliches Kursplus zu Buche stand.
Der fulminante Börsenstart 2024 ist keine Garantie für ein insgesamt starkes Aktienjahr. Deshalb sollten sich Anleger auch für einen möglichen Schwächeanfall an der Börse wappnen. Pharma- und Gesundheitsaktien standen zuletzt nicht gerade auf der Sonnenseite des Anlegerinteresses. Sie gelten jedoch als defensive Titel, die auch in schwachen Börsenphasen vergleichsweise stabil bleiben. Wie es mit dem Aktienmarkt bis Jahresende weitergeht, hängt vor allem von den Notenbanken ab. Eine abermalige Verschiebung der Zinssenkungen wird die Börse nicht mehr so locker wegstecken. Mit Blick auf die Unternehmenszahlen für das erste Quartal dürfte zunehmend die Entwicklung der Konjunktur in den Fokus der Investoren rücken. Während die deutsche Wirtschaft stag-niert, zeigt sich die US-Konjunktur erstaunlich robust. Auch im von der Immobilienkrise gebeutelten China kehren allmählich die Wachstumskräfte zurück. Auf dem Nationalen Volkskongress gab die chinesische Führung ein Wachstumsziel von rund 5% für das laufende Jahr aus. Davon sollte auch Deutschlands Exportindustrie profitieren, die traditionell als das Schwungrad der deutschen Konjunktur gilt. Im Januar stiegen die Ausfuhren deutscher Unternehmen in die Volksrepublik im Vergleich zum Vorjahr um 5,2%. Damit könnte ausgerechnet China zum Rettungsanker für das darbende deutsche Wirtschaftswachstum werden. Eine schneller als bislang erwartet anspringende Konjunktur könnte dann auch am Aktienmarkt für neue Impulse sorgen.