Interview mit EZB-Ratsmitglied Stournaras: „Es besteht das Risiko, das Inflationsziel von 2% zu unterschreiten“

Yannis Stournaras, Präsident der Bank von Griechenland
Yannis Stournaras, Präsident der Bank von Griechenland © Bank of Greece

PLATOW-Redakteur Jan Mallien im Interview mit Yannis Stournaras, Gouverneur der Bank von Griechenland und Mitglied des EZB-Rates.

Gouverneur Stournaras, die neuesten Wirtschaftsdaten für den Euro-Raum, wie die Einkaufsmanagerindizes, sind enttäuschend ausgefallen. Wie besorgt sind Sie darüber?
Die Zahlen deuten darauf hin, dass das Wachstum im Euro-Raum einen Dämpfer bekommen hat und die wirtschaftliche Dynamik nachlässt. Die Einkaufsmanagerindizes sind im Juli auf ein Fünfmonatstief gefallen. Es gibt auch andere Warnsignale.

Welche meinen Sie?
Ich mache mir Sorgen, dass es keine Anzeichen für eine Erholung des verarbeitenden Gewerbes und der Industrieproduktion gibt. Zudem birgt die zunehmende geopolitische Fragmentierung Risiken. Besonders beunruhigend ist der Rückgang des Vertrauens der Unternehmen in den beiden größten Volkswirtschaften des Euro-Raums, Deutschland und Frankreich.

Das klingt so, als würde die EZB im September die Zinsen senken?
Unsere Entscheidung hängt von den Daten ab. Wie Präsidentin Lagarde betont hat, stützen wir uns nicht nur auf einzelne Datenpunkte. Wir berücksichtigen alle vorhandenen Informationen.

Auf welche Daten achten Sie besonders?
Entscheidend ist, dass die eingehenden Daten, insbesondere zu den Löhnen, uns darin bestärken, dass die Inflation mittelfristig wieder auf das Zielniveau von 2 % zurückkehren wird. Wichtig sind die EZB-Projektionen im September zur Inflations- und Wachstumsentwicklung. Wenn die Inflation wie erwartet weiter zurückgeht, wären schrittweise Zinssenkungen angemessen, um die wirtschaftliche Dynamik zu stärken.

In den Juni-Projektionen geht die EZB von einem realen BIP-Wachstum von 0,9% für 2024 aus. Ist das noch realistisch?
Die vorläufige BIP-Schnellschätzung für das zweite Quartal 2024 lag bei 0,3 Prozent, und damit etwas unter den Erwartungen. Zur gleichen Zeit deuten die eingehenden Daten darauf hin, dass es angesichts der großen Unsicherheit weiter Abwärtsrisiken für das Wachstum gibt. Die Wirtschaft im Euro-Raum wird in den nächsten Quartalen voraussichtlich weiter wachsen, aber das Wachstum könnte geringer ausfallen als im Juni erwartet.

Was heißt das für die Inflationsentwicklung und die Geldpolitik?
Die erneuten Anzeichen einer schwachen Wirtschaftsentwicklung und die große Unsicherheit werden die Inflation sehr wahrscheinlich stärker dämpfen als erwartet. Dies deutet darauf hin, dass mittelfristig das Risiko besteht, das Inflationsziel von 2% zu unterschreiten.

Sie hatten kürzlich gesagt, dass sie mit zwei weiteren Zinssenkungen in diesem Jahr rechnen. Erwarten sie nun mehr Schritte?
Ich gehe immer noch von zwei Zinssenkungen in diesem Jahr aus, wenn die Desinflation wie erwartet voranschreitet. Wir sind da auf einem guten Weg. Außerdem ist das Wachstum schwächer als erwartet, was ebenfalls für Zinssenkungen spricht.

Ein wichtiger Anhaltspunkt, um zu bestimmen, wie viele Zinssenkungen perspektivisch nötig sind, ist der neutrale Zins, bei dem die Geldpolitik die Wirtschaft weder stützt noch bremst. Wo liegt dieser aus ihrer Sicht?
Die vorhandenen Schätzungen sind mit beträchtlicher Unsicherheit behaftet. Philip Lane hat ihn kürzlich auf nominal 2% geschätzt, Isabel Schnabel geht auch von einem Bereich zwischen nominal 2 bis 2,5% aus. Ich bin geneigt, diesen Schätzungen im Großen und Ganzen zuzustimmen.

Laut den Juni-Projektionen der EZB wird die Inflationsrate im Euro-Raum Ende 2025 den Zielwert von zwei Prozent erreichen. Wenn die Geldpolitik konsistent mit den Projektionen sein soll, müsste der Zins bis dahin auf 2,5 Prozent abgesenkt sein, wenn dies das neutrale Niveau sein sollte.
Ja, genau, aber bedenken Sie die oben erwähnte Unsicherheit.

Dann wären aber recht viele Zinssenkungen in diesem und im nächsten Jahr nötig. Bislang lässt sich die EZB damit Zeit. Vertrauen Sie den eigenen Projektionen nicht?
Unsere Projektionen gehen davon aus, dass die Inflation reibungslos und schnell zurückgeht. Aber der Weg bleibt holprig in einem Umfeld großer Unsicherheit.  Die Schnellschätzung der Inflation in der Eurozone für den Monat Juli, von 2.6 Prozent, passt in dieses Bild, und ist im Einklang mit unseren Projektionen.  Deshalb gehen wir bei unseren Entscheidungen mit Vorsicht vor.

Was bedeutet das?
Wir sollten uns Sorgen machen, dass wir unser Inflationsziel über-, aber auch unterschreiten könnten, da es Anzeichen für eine Wachstumsabschwächung gibt.

Sie sehen Risiken in beide Richtungen?
Aus meiner Sicht sind die Risiken jetzt ausgeglichen. Wir sollten gleichermaßen besorgt sein, sowohl was die Überschreitung als auch was die Unterschreitung des Inflationsziels betrifft.

Bisher waren aus dem EZB-Rat eher Sorgen vor zu hoher Inflation zu vernehmen. Ihre Ratskollegin Isabel Schnabel hat zum Beispiel erneut davor gewarnt, dass die letzte Meile bei der Inflationsbekämpfung die schwerste sein könnte. Teilen Sie diese Einschätzung?
Der Inflationsdruck hat seit unserer letzten Zinserhöhung im September 2023 deutlich nachgelassen. Laut unseren Juni-Projektionen ist die Inflation auf dem besten Weg, sich bis Ende nächsten Jahres nachhaltig dem Inflationsziel von 2 % anzunähern. Und wenn wir die Basiseffekte im Energiebereich herausrechnen, ist die Inflation jetzt seit vielen, vielen Monaten kontinuierlich gesunken.

Viele Experten sorgen sich wegen der hohen Inflationsrate bei Dienstleistungen. Sie sehen das entspannter. Warum?
Dienstleistungspreise und Löhne reagieren erst spät auf sinkende Inflation. Daher kann es irreführend sein, den aktuellen Daten zu viel Gewicht einzuräumen. Die Löhne sind 2024 stark gestiegen, um den Kaufkraftverlust der vergangenen Jahre auszugleichen. Vorausschauende Indikatoren deuten aber auf einen Rückgang des Lohnwachstums 2025 hin. Zudem könnten niedrigere Gewinnmargen die Lohnsteigerungen zu einem gewissen Grad abfedern. Schließlich bezieht sich unser Ziel von 2 Prozent auf die Gesamtinflation.

Sie haben die hohe Unsicherheit angesprochen. Dazu haben die Wahlen in Frankreich beigetragen, demnächst steht das Votum in den USA an.  Welchen Einfluss hat das für die Finanzmärkte?
Die Märkte reagieren stets auf politische Nachrichten. Die Wahlen in Frankreich haben zu einer etwas höheren Volatilität geführt, was sich aber weitgehend wieder beruhigt hat. Die US-Wahlen könnten hingegen die Weltwirtschaft nachhaltig beeinflussen.

Was meinen Sie genau?
Wenn die angedrohten Zölle Realität werden, befürchte ich eine noch stärkere Segmentierung der Weltwirtschaft und mehr Stagflationsdruck, also eine Kombination aus Inflationsdruck und wirtschaftlicher Schwäche.

Lassen Sie uns noch kurz über die geplante Strategieüberprüfung der EZB sprechen, die demnächst beginnen soll. Was erwarten Sie davon?
Seit der letzten Überprüfung 2021 hat sich das wirtschaftliche Umfeld stark verändert.  Damals gingen wir davon aus, dass unsere Leitzinsen oft nahe der effektiven Zinsuntergrenze liegen würden, was die Wirkung der Geldpolitik einschränkt. Mehrere Schocks haben zwischenzeitlich zu einem Inflationsschub geführt. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Strategie sowohl bei hoher als auch bei sehr niedriger Inflation effizient ist. Unser Inflationsziel von zwei Prozent bleibt unverändert.

Einige Ratsmitglieder argumentieren, dass Trends wie die Alterung der Gesellschaft oder der grüne Umbau der Wirtschaft tendenziell zu einem höheren Zinsniveau führen. Sehen Sie das auch so?
Die Debatte hängt mit dem neutralen Zins zusammen, den wir schon diskutiert haben. Dieser ist eine nicht observierbare Größe und wir wissen, dass er von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, wie Produktivitätswachstum, Bevölkerungsalterung, Globalisierung und dem Niveau der Staatsverschuldung. Gleichzeitig wird erwartet, dass künstliche Intelligenz und der grüne Wandel eine immer wichtigere Rolle spielen werden. Es gibt klare Hinweise, dass der neutrale Zins vor der Pandemie im Trend gefallen ist. Ich glaube, dass er in Zukunft in der Nähe, aber über dem Niveau vor der Pandemie liegen wird –real irgendwo über null Prozent.

 

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