Exklusiv-Interview

„Schaden ist auf absehbare Zeit irreparabel“

Im PLATOW-Interview äußert sich Wolfgang Ischinger, Präsident des Stiftungsrates der Münchener Sicherheitskonferenz und Botschafter a.D. in Washington und London, zu Trumps Zollpolitik, einem möglichen Ukraine-Frieden und der nötigen Reaktion Europas.

Justus Schirmacher,
Wolfgang Ischinger (links) und Justus Schirmacher
Wolfgang Ischinger (links) und Justus Schirmacher © Justus Schirmacher

Herr Ischinger, erfolgreiche Diplomatie, wie Ihr Freund Henry Kissinger gerne betonte, beginnt mit einem guten Verständnis der Interessen des Gegenübers. Können Sie Trumps Ziele im Sinne Kissingers noch nachvollziehen?

Wir werden von Washington bewusst im Dunkeln gelassen. Die langfristigen Ziele bleiben unklar. Im Zollkonflikt drängen sich zwei Interpretationen auf. Auch nach dem ersten Einlenken Trumps bleibt die optimistische Lesart die, die in Trumps Zolldrohungen lediglich eine Verhandlungstaktik sieht. Die zweite Lesart ist deutlich dramatischer. Sie macht in der Politik Trumps den Versuch aus, das gegenwärtige System aus den Angeln zu heben.

Können Sie sich auf eine Lesart festlegen?

Gerade die letzten Tage beweisen eindrucksvoll, dass beides möglich ist. Ich will mich im Augenblick nicht festlegen.  Das erste große Opfer dieser Vorgehensweise steht aber bereits fest: das Vertrauen in die Vereinigten Staaten. Dieses Vertrauen ist zutiefst erschüttert. Ganz egal, was in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten passiert, der entstandene Schaden ist in absehbarer Zeit irreparabel.

Manch einer ruft jetzt danach, unsere Beziehungen zu China zu stärken. Stimmen Sie dem zu?

Ich warne davor, sich aus Enttäuschung über die USA in die Arme Chinas zu flüchten. Aber natürlich ist es wichtig, das Verhältnis zu China zu pflegen, ohne freilich den Fehler zu wiederholen, den wir im Umgang mit Russland gemacht haben: wirtschaftliche Abhängigkeit und politische Naivität.

Weiterhin tobt Krieg in Europa. Ist in der Ukraine eine baldige Waffenruhe zu erwarten?

Ich befürchte, dass wir so bald weder einen Waffenstillstand noch echte Friedensverhandlungen erleben werden. Der Grundgedanke, rasch zu einem Waffenstillstand zu kommen, ist richtig. Aber die Methode Trump – Russland zu locken und gleichzeitig Druck auf die Ukraine auszuüben – scheint nicht von Erfolg gekrönt zu sein.

Sie haben als Unterhändler in kriegerischen Auseinandersetzungen große Erfahrung. Warum kann das nicht gelingen?

Solange nicht beide Seiten überzeugt sind, dass der militärische Einsatz keine Vorteile mehr bringt – weder territorial noch politisch – wird es keine ernsthaften Verhandlungen geben. Genau dieser Punkt ist auf russischer Seite noch nicht erreicht. Warum sollte der russische Generalstab Putin empfehlen, den Krieg zu beenden, wenn fast täglich militärische Fortschritte erzielt werden, wenn auch nur geringe?

Ist Trumps Vorstoß im Ukrainekrieg also völlig falsch?

Nein. Alle wollen ja Frieden. Als Europäer werden wir leider deshalb von Trumps Vorstoß überrollt, weil wir es auch nach mehr als drei Jahren Krieg nicht geschafft haben, einen eigenen Plan für eine Friedenslösung vorzulegen – weder für ein Kriegsende noch für eine politische Nachkriegsordnung. Aber Zweifel sind erlaubt, ob der US-Alleingang ohne Einbeziehung oder Beteiligung der Europäer zu dem angestrebten baldigen Waffenstillstand führen wird.

Viele Deutsche wollen in Russlands Krieg gegen die Ukraine keine echte Bedrohung für uns sehen. Warum ist das eine Fehleinschätzung der Risiken?

Vergleichen Sie das heutige Russland mit dem des Kalten Krieges. Damals standen sich auf deutschem Boden zwar Hunderttausende von Soldaten gegenüber. Doch die damalige Sowjetunion war eine Status-quo-Macht. Sie wollte ihre Kontrolle über Osteuropa bewahren, aber nicht unbedingt noch mehr erobern. Mit ihr konnte man verhandeln – Rüstungskontrollabkommen und die KSZE-Schlussakte von Helsinki sind Beispiele dafür.

Heute haben wir es mit einem ganz anderen Russland zu tun: einer revisionistischen Macht, die gezielt den europäischen Status quo verändern will. Putin selbst hat erklärt, dass er zum Zustand von 1997 zurückkehren möchte – also zu einer Zeit, bevor Polen, Ungarn und Tschechien der NATO beitraten. Seine Vision ist ein „Großrussland“, das die Einflusssphäre der USA aus Europa zurückdrängt und Mittel- und Osteuropa wieder unter russische Kontrolle bringt.

Das ist, was er anstrebt. Aber ist dieses Ziel auch zu erreichen?

Wer jetzt sagt: „Das wird Russland niemals versuchen“, handelt fahrlässig. Ja: Aktuell ist die russische Armee durch den Ukrainekrieg stark geschwächt. Aber Anfang 2022 hat auch niemand hier geglaubt, dass Putin tatsächlich einen Großangriff gegen die Ukraine nicht nur androhen, sondern durchführen würde. Im Falle eines Waffenstillstands könnte Russland innerhalb weniger Jahre wieder ein großes Arsenal moderner Waffen aufbauen. Auch wenn die russische Führung weiß, dass zum Beispiel eine Rückeroberung Polens unrealistisch ist, bleibt die Bedrohung für das Baltikum, Moldawien oder an der ukrainischen Westgrenze sehr real: sollte Russland die Ukraine militärisch unter Kontrolle bringen, stünden seine Truppen direkt an der Grenze Polens. Die bittere Wahrheit ist, dass Russland Schwäche ausnutzen würde – jedenfalls müssen wir davon ausgehen.

Die Amerikaner wollen uns bewusst nicht in Sicherheit wiegen und Russland hat Krieg nach Europa gebracht. Wie müssen wir darauf reagieren?

Die Antwort lautet: Europa. Was in der der Außen- und Sicherheitspolitik jetzt nötig ist, hat Emmanuel Macron bereits vor Jahren formuliert: Europa muss nicht nur weiter integriert werden – das bleibt eine zentrale, aber unvollendete Aufgabe, etwa beim Binnenmarkt bzw. der Kapitalmarktunion – sondern Europa muss auch fähig sein, sich selbst zu schützen. „Une Europe qui protège“. Das wird auch eine der zentralen Aufgaben sein – insbesondere für Deutschland als größte Kraft in der EU.  Eine große und strategische Herausforderung für die künftige Bundesregierung.

Deutschland hat sich in diesen Fragen bisher stark zurückgehalten.

Zurückgehalten ist eine Untertreibung. Seit 36 Jahren ist keine einzige neue, grundlegende strategische Initiative von Deutschland zur Weiterentwicklung des europäischen Projekts ausgegangen. Damals, 1989, legte Bonn den Grundstein für den Euro. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland erneut Führung übernimmt, Partner sucht und eine neue europäische Initiative startet. Das würde Eindruck machen – in Washington, Moskau und auch in Peking. Es ist überfällig.

Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU sind hier das größte Problem. Wie kann das gelingen?

Man sollte mit einem „harten Kern“ beginnen – ein Kreis von Pionieren, der in der Lage ist, zu Verteidigungsfragen mit einer Stimme zu sprechen, also Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, einen gemeinsamen Rüstungsmarkt aufzubauen und so sicherheitspolitisch gemeinsam voranzugehen. Ich wünsche mir, dass die nächste Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich, Polen, den baltischen Staaten sowie Schweden und Finnland eine solche Initiative startet.  Das „Weimarer Dreieck“ – Paris, Berlin und Warschau – könnte die Basis bilden.

Ist Friedrich Merz der Richtige für diese Aufgabe?

Ich bilde mir ein, ihn gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er in diese Richtung denkt. Ich traue es ihm zu. Er ist ein überzeugter Europäer. Wolfgang Schäuble, der schon vor 30 Jahren Vorschläge zum Thema Kerneuropa machte, war sein Mentor.

Europas Rüstungsindustrie ist denkbar ineffizient. Was muss hier passieren?

Europa braucht einen konsolidierten Rüstungsmarkt. Während die USA mit einem Verteidigungsbudget, das mehr als doppelt so hoch ist wie das der gesamten EU, etwa 30 große Waffensysteme betreiben, kommen die 27 EU-Mitgliedstaaten auf rund 180 – also sechsmal so viele. Das ist unglaublich kostenintensiv und unwirtschaftlich. Eine klarere Aufgabenteilung innerhalb der EU könnte großes Potenzial heben und Skaleneffekte erzielen.

Auch hier muss ich fragen, ob das überhaupt gelingen kann.

Der beste Beweis ist doch Airbus. Anfangs wurde dieses europäische Projekt belächelt. Heute ist es der erfolgreichste Hersteller ziviler Großflugzeuge weltweit. Mit ausreichender politischer Rückendeckung ist also vieles möglich.

Und die Konsequenz eines Scheiterns?

Wir würden zwischen den geopolitischen Interessen von USA, China und Russland zerrieben werden. Wir sind heute sicherheitspolitisch nicht handlungsfähig und werden auch nicht respektiert. Das zeigt sich aktuell im Nahen Osten wie in der Ukraine. Unsere unmittelbaren Nachbarregionen sind von schweren Verwerfungen betroffen. Und was tun wir? Wir sind in der Krisenpolitik kaum beteiligt. Europa hat keine strategische Gestaltungsmacht.

Was stimmt Sie zuversichtlich?

Wir sind in dieser Situation nicht wegen äußerer Umstände, sondern weil wir es nicht geschafft haben, mit einer gemeinsamen europäischen Stimme zu sprechen. Wir sind nicht das Opfer fremder Willkür, sondern unserer eigenen Uneinigkeit. Das ist unser eigenes Problem – und genau deshalb ist es auch lösbar.

Herr Ischinger, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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